Ex-Bundespräsident Christian Wulff über Fehler der Integrationspolitik und über Unternehmer als willige Helfer der AfD.
DIE ZEIT: Herr Wulff, am 3. Oktober 2010 haben Sie als Bundespräsident den Satz gesagt: "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland." Bei der Islamkonferenz vor wenigen Wochen berichteten Sie, seit dem 7. Oktober bekämen Sie wieder "mehr Hassmails als sonst". Wer schreibt da? Und was schreiben die Leute?
Christian Wulff: Inzwischen schreiben zum Teil Menschen aus der Mitte der Gesellschaft mit Hass gegen Muslime und unterirdischer Häme, ich solle endlich aufwachen und anerkennen, dass der Islam nicht zu Deutschland passe und schon gar nicht zu Deutschland gehöre. Manche wünschen mir ein Leben im Iran, wo die Scharia gelte; da würde kurzer Prozess mit mir gemacht. Manche schicken einfach ein Foto eines Islamisten und schreiben: Wir werden uns kümmern. Aus den Schreiben spricht extrem viel Angst vor islamistischem Terror, Gefährdung der inneren Sicherheit, Überfremdung, aber auch Hass und Bösartigkeit.
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ZEIT: Was bedeutet das konkret, wie kann man verhindern, dass unter denjenigen Antisemiten sind, die zu uns flüchten und bleiben?
Wulff: Wir werden über das Strafrecht reden müssen. In Kanada zum Beispiel stehen gruppenbezogene Beleidigungen viel präziser unter Strafe. Das gesamte Verfahren der Einbürgerung muss geändert werden in Richtung unserer nationalen Interessen, wie es andere Länder wie Neuseeland, Kanada, Australien, Amerika tun. Die deutsche Sprache muss beherrscht werden, das Leben aus eigener Arbeit finanziert werden. Wir wissen, dass für eine erfolgreiche Integration Sprache, Arbeit und soziale Kontakte entscheidend sind. Soziale Bindungen, die Einbindung in Freundeskreise, werden aber bisher kaum angeschaut. Dabei wissen wir seit Jahrzehnten, dass das Erfolgsfaktoren für gelingende Integration und die Verhinderung von Parallelgesellschaften sind.
ZEIT: Sie wollen Freundeskreise staatlich bewerten?
Wulff: Nein. Ich finde diskussionswürdig, dass jemand vor seiner Einbürgerung eine bestimmte Zahl von Bürgen aufbieten muss. Und wir müssen in den Ausländerbehörden wegkommen vom Prinzip Eingangsstempel, Wartezeit und Aufenthaltsdauer. Ich hatte gerade einen zuständigen Landrat angeschrieben, weil ein Altenheim die dort angestellte Physiotherapeutin eingebürgert haben möchte, deren Verfahren schon fast zwei Jahre dauert und die überlegt, nach Kanada auszuwandern. Antwort: Das geht hier nach Eingangsprinzip. Warum kann ein Kreis mit einem Mangel an Physiotherapeuten nicht eine Bewerbung aus dem Stapel nach oben ziehen, wenn es in unserem nationalen Interesse liegt? Andererseits sind viele zu ängstlich, Einbürgerungen zurückzustellen, wenn sich Zweifel aufdrängen. Es gibt keinen Anspruch auf Einbürgerung. Deutschland darf selbstbewusst entscheiden, wer Deutscher wird. Und wer nicht. Und grundsätzlich auch auf nur einer Staatsbürgerschaft bestehen.
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ZEIT: Heißt das, Ihr Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" ist gescheitert?
Wulff: Als ich den Satz zum ersten Mal gesagt habe, hat eine leichte Mehrheit ihn bejaht. Heute bejaht ihn eine Minderheit. Das heißt, die öffentliche Diskussion läuft gegen meine These; im Alltag allerdings sind Muslime längst in allen gesellschaftlichen Bereichen vertreten. Religion ist auch nur ein Merkmal, zudem Privatsache.
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ZEIT: Bei der haben Sie im Juni dieses Jahres Deutschland vertreten, damit Altkanzler Schröder nicht neben Erdoğan sitzend als Vertreter Deutschlands wahrgenommen wird.
Wulff: Da saßen auch Schurken der Welt beieinander. Erdoğan begrüßte herzlich als seinen großen Freund den Präsidenten Venezuelas Maduro und verschiedene Vertreter afrikanischer und arabischer Länder, aus denen die meisten Geflüchteten und Auswanderer nach Europa kommen. Wir haben inzwischen mit die höchste Zahl an Asylanträgen aus der Türkei. Die Leute laufen weg vor dem System, vor der Inflation, vor Meinungsunterdrückung und Verfolgungsdruck. Werden oft sogar bis zur polnischen oder finnischen Grenze gebracht. Und in Europa werden dann vonseiten der Russen und anderer Autokratien Parteien unterstützt wie Le Pens Rassemblement in Frankreich, die FPÖ in Österreich und die AfD in Deutschland, die aus Fremdenfeindlichkeit Kapital schlagen. Das ist die subtilste Form der Destabilisierung unserer Demokratien und des freiheitlichen Europa. Man treibt diejenigen aus dem eigenen Land, die oft Minderheiten, Förderer der Demokratie, der Freiheit, der Vielfalt sind, und genau gegen diese Leute werden dann in anderen Ländern Ängste geschürt. Das ist eine echte Herausforderung für unseren Zusammenhalt in Europa.
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ZEIT: Den Zusammenhalt stärken, das würde jeder bejahen. Warum ist es trotzdem so schwer?
Wulff: Stefan Zweig hat als Gejagter und Vertriebener vor seinem Selbstmord in Die Welt von Gestern den Untergang Weimars beklagt, dass Hitlers Mein Kampf nicht gelesen, nicht ernst genommen, sondern eher verspottet worden sei. Das findet jetzt wieder statt. Niemand scheint zu lesen, wenn der Spitzenkandidat der AfD zur Europawahl Ungeheuerliches schreibt, wie etwa, sein Vorbild für Internet- und Medienpolitik sei China. Die AfD sagt offen, wir müssen uns auf den Volkssouverän berufen, und dieser ist nicht identisch mit dem Staatsvolk. So begann damals die Diskriminierung der Juden. Ich hoffe, dass Sie diese Worte drucken und ich dann auch dieses Interview immer dabeihaben und eine Kopie dalassen kann, wenn jemand sagt, er wähle die AfD. Martin Niemöller war ein Freund meines Großvaters. Von ihm stammt sinngemäß das Zitat: Erst kamen die Kommunisten, aber ich war kein Kommunist. Dann holten sie Sozialisten, aber ich war kein Sozialist. Als ich geholt wurde, war keiner mehr da, der protestieren konnte. Der Molkerei-Unternehmer Theo Müller, in die Schweiz ausgewandert, nimmt Einfluss auf die deutsche Politik. Er trifft sich mit Frau Weidel, findet sie ganz toll und sagt quasi als "Persilschein", er habe keinerlei NS-Inhalte gehört. Das war bei Gustav Krupp, Friedrich Flick, August von Finck und anderen deutschen Industriellen ganz genauso, die von Göring und Hitler freundlich und bestimmt über den Tisch gezogen wurden. Das kann man anschaulich in Eric Vuillards Die Tagesordnung nachlesen. Die Nationalsozialisten kamen nicht aus heiterem Himmel. Sie hatten breite und zum Teil naive Unterstützung bis in die Wirtschaft. Das darf niemals wieder passieren.