Der weltweit angesehene Klimaexperte im Gespräch über rote Linien, die bedrohlichsten Kippelemente und seine beste Idee gegen den Klimawandel
Hans Joachim Schellnhuber hat die internationale Klimaforschung der letzten Jahrzehnte maßgeblich geprägt. Der studierte Physiker verankerte vor gut 20 Jahren das Konzept der Kippelemente in der Klimaforschung und war von 1992 bis 2018 Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, einer der weltweit führenden Einrichtungen in diesem Bereich. Seit dem 1. Dezember ist der 73-Jährige Generaldirektor des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien.
Auch diese Forschungseinrichtung, die vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert gegründet wurde, zählt zu den Hotspots der internationalen Klimaforschung. An seiner neuen Wirkungsstätte will Schellnhuber, der für seine Forschungen und für sein Engagement zahlreiche hohe Ehrungen in vielen Ländern erhalten hat, unter anderem seinen "Königsweg" zur langfristigen Rettung des Klimas weiter erforschen, wie er im ausführlichen Interview erklärt.
STANDARD: 2023 war das heißeste Jahr der Messgeschichte, der vergangene Jänner der heißeste Jänner, mit dem wir die 1,5-Grad-Grenze bereits erreicht haben. Wie wird es mit dem Weltklima weitergehen?
Schellnhuber: Was sich im Vorjahr klimatisch getan hat, ist bestürzend. Die öffentliche Aufmerksamkeit gilt vor allem den Extremereignissen, die aufgrund der Erderwärmung zunehmen, was hinlänglich bekannt ist. Weniger mediales Interesse finden die Anzeichen, dass sich das Klimasystem als Ganzes im Umbruch befinden könnte. Die mittlere Ozeantemperatur beispielsweise hat zuletzt einen riesigen Sprung nach oben gemacht. Wir Wissenschafter hoffen, dass es sich dabei nur um einen kurzfristigen Ausreißer handelt und das System sich wieder "beruhigt". Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass der Riese aus noch nicht recht verstandenen Gründen jetzt erwacht und wir uns gerade in ein anderes Klimaregime bewegen.
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STANDARD: Woran denken Sie dabei konkret?
Schellnhuber: Schwerwiegende Rückkopplungseffekte könnten sich etwa durch den Verlust der tropischen Regenwälder sowie durch das Auftauen der Permafrostböden und der Methaneis-Vorkommen auf den Kontinentalschelfen ergeben. Das Auftauen an Land und im Meer, bei dem CO2 und Methan freigesetzt werden, ist wahrscheinlich ein sehr langsamer Prozess. Aber wenn er einmal in Gang kommt, dürfte er kaum zu stoppen sein. Methan kommt in der öffentlichen Diskussion viel seltener vor, obwohl es als Treibhausgas mindestens 20-mal so stark ist wie CO2, auch wenn es sich schneller wieder abbaut. Die Methankonzentration in der Atmosphäre schnellte in den letzten Jahren wieder nach oben, und es gibt starke Hinweise, dass dieser jüngste Zuwachs aus natürlichen Quellen stammt. Das würde bedeuten, dass die Ökosysteme bereits reagieren und die befürchteten Rückkopplungseffekte schon eingetreten sind.
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STANDARD: Sie haben bereits erwähnt, dass wir die Zwei-Grad-Linie nicht halten werden, danach aber – wegen der Kippelemente – möglichst bald wieder unter diese Grenze kommen sollten. Wie kann das am besten erreicht werden? Kommen wir um Methoden wie Carbon Capture and Storage (CCS), also das Abscheiden und Einlagern von CO2, das gerade auch in Österreich diskutiert wird, künftig nicht herum?
Schellnhuber: Selbst wenn wir es schaffen sollten, bis spätestens 2045 weitgehend emissionsfrei zu wirtschaften, wird das in der Tat nicht ausreichen. Das bedeutet also, dass wir CO2 wieder aus der Atmosphäre entfernen müssen, was mittlerweile auch die meisten verstanden haben. Das ist eine riesige, komplexe Herausforderung, weil die entsprechenden Maßnahmen "skalierbar", also breitenwirksam und kostengünstig sein müssen, um globale Effekte zu erzielen. Das wird bei vielen rein technischen Ansätzen zum Problem: Bei CCS beispielsweise muss man zunächst das CO2 aus dem Rauchgas herausfiltern, es dann verflüssigen und zur Endlagerung über weite Strecken – etwa bis unter die Nordsee – transportieren. Das ist ein unerhörter Aufwand, der in der benötigten Größenordnung eine neue weltweite Infrastruktur benötigt. Unter dem Strich ist das sündteuer und allerbestenfalls klimaneutral, aber keinesfalls klimapositiv. Und das gilt für die meisten technischen Lösungen, die heute angepriesen werden.
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STANDARD: Wie kann das im Detail funktionieren?
Schellnhuber: Lassen Sie uns das im Kleinen am Beispiel eines durchschnittlichen Einfamilienhauses durchrechnen. Dieses besteht aus etwa 100 Tonnen Stahlbeton. Allein bei der Produktion der verwendeten Materialien werden also grob 100 Tonnen CO2 frei. Die Zementproduktion ist, was kaum jemand weiß, für rund acht Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Das ist dreimal so viel wie der ganze Flugverkehr. Wenn ich aber ein Haus aus Holz baue, dann vermeide ich nicht nur 100 Tonnen CO2, sondern ich entferne zusätzlich 100 Tonnen langfristig aus der Atmosphäre. Und 100 plus 100 macht 200 – ein schönes Ergebnis.
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STANDARD: Insbesondere Rechtspopulisten, die gerade politisch auf dem Vormarsch sind, würden das wohl bezweifeln. Wie geht es Ihnen mit der Aussicht, dass jemand wie Donald Trump, der Erfinder "alternativer Fakten", zum nächsten US-Präsidenten gewählt werden könnte?
Schellnhuber: Wenn Trump demnächst wiedergewählt werden sollte, dann haben wir tatsächlich ein dramatisches Problem und könnten weitere zehn Jahre Klimaschutz verlieren, was uns direkt an die Kipppunkte heranführen würde. Vielleicht soll es aber so sein, dass man wie nach den 1930er-Jahren, als der Faschismus populär wurde, durch eine dunkle Phase hindurchmuss, erst dann eines Besseren belehrt wird und dann endlich die richtigen Maßnahmen ergreift. Allerdings hoffe ich inständig, dass diese Schocktherapie nicht mit ähnlich entsetzlichen Ereignissen verbunden sein wird wie Mitte des 20. Jahrhunderts.
STANDARD: Kann mehr und bessere Information durch die Medien und die Wissenschaft nicht vielleicht doch verhindern, dass es zu einer solchen "Schocktherapie" kommt?
Schellnhuber: Das Problem ist, dass viele Leute heutzutage nur noch im Internet nach Informationen stöbern, um ihre Meinung zu bestätigen. Wir reden dann eben nicht mehr über "Evidenz", sondern über "Präferenz", und nicht über "Information", sondern über "Konfirmation". Diese beiden Gegensatzpaare haben inzwischen ganz wesentlich mit den sogenannten sozialen Medien zu tun. Ich kann mir aus dem digitalen Informationsgewitter das heraussuchen, was ich bevorzuge und mich bestätigt – und werde durch die entsprechenden Suchmaschinen dabei noch unterstützt. Die Geschichte lehrt uns leider auch, dass bei einer bedrohlich näherkommenden Krise meist eine Art kognitive Dissonanz einsetzt.
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STANDARD: Haben Sie am Ende gar keine besseren Aussichten für uns?
Schellnhuber: Es kann tatsächlich immer noch alles gutgehen, aber eben mit einer relativ geringen Wahrscheinlichkeit. Ich habe letztens digital eine Vorlesung an der Uni Mainz gehalten, und da kam am Ende die Frage: "Wieso machen Sie trotzdem weiter?" Meine Antwort: Wenn Sie nur eine zehnprozentige Wahrscheinlichkeit haben, dass die einzig existierende Therapie Ihr todkrankes Kind rettet, dann werden Sie dennoch alles dafür tun, dass diese Therapie angewandt wird. So ist es auch mit dem Klima und der "Gesundheit" unseres Planeten: Aus meinem Wissen über geschichtliche und geopolitische Zusammenhänge schließe ich, dass die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass wir scheitern werden. Aber das hält mich keine Minute des Tages davon ab, für die kleinere Chance der Rettung zu kämpfen.